Die Zweitklassuntersuchung

ALLTAG Schon wieder ist ein Schuljahr vorbei. Nach den Sommerferien geht’s für unsere Frieda bereits in die 3. Klasse. Immer noch fühlt es sich für uns als Familie absolut stimmig an, dass uns unser Weg an die hiesige Waldorfschule geführt hat. Weiterhin sehen wir uns alle darin bestärkt, dass auch die Kann-Kind-Einschlung unserer Frieda keine Fehlentscheidung war. Unser Kind ist sehr glücklich an der Schule, hat viele Freundschaften geknüpft und erlebt in ihrer Klasse Schule eben nicht nur als einen Raum für reine Wissensvermittlung, sondern als Lebensraum, in dem Gemeinschaft und das Von- und Miteinanderlernen wichtig ist. Und ganz nebenbei wird unsere Frieda mit ihrer unglaublich starken intrinsischen Lernmotivation total “abgeholt” und in ihrem Wissensdrang überhaupt nicht gebremst. Dass besonders begabte Kinder an der Waldorfschule per se falsch aufgehoben sein könnten, stimmt für uns so nicht. Die Differenzierung “nach oben” klappt in Friedas Klasse wirklich ganz wunderbar und sie ist an keinem Tag gelangweilt oder fühlt sich zu wenig gefordert. Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch nochmal betonen: Das mag sicherlich nicht an allen Waldorfschulen und natürlich auch nicht bei allen Lehrer:Innen so sein. Es gibt auch im Waldorf-Bereich große Unterschiede. Und auch gilt nochmals zu betonen, dass der Waldorf-Weg ebenfals nicht für jedes Kind der einzig wahre und richtige ist. Außerdem steht und fällt an der Waldorfschule, wie auch an allen Regelschulen des Staatssystems, vieles mit der Lehrkraft als Wegbegleiter!

Lernschwierigkeiten erkennen

Heute soll es aber nicht wieder um die “richtige Schule” gehen, sondern ganz konkret um die Zweitklassunter-suchung, die im vergangenen Schuljahr in Friedas Klasse stattfand. Die Zweitklass-untersuchung wurde 1986 für Waldorfschulen entwickelt, um den Klassenlehrer:Innen ein zusätzliches “Instrument” an die Hand zu geben, um Lernschwierigkeiten bei Kindern (besser) zu erkennen und den Eltern bzw. Kindern passende Hilfen anzubieten oder zu empfehlen. Es ist also, neben der Kinderbetrachtung und den Beobachtungen im Unterricht, nur ein weiteres Puzzlestück und etwaige Vermutungen werden dadurch verifiziert oder falsifiziert. Ziel der Zweitklassuntersuchung ist es, ein ganzheitliches Bild zu bekommen. Es geht im Waldorfsinne um die Frage, wie das Kind den physischen Leib ergriffen hat und inwieweit es für kognitive Inhalte wirklich bereit ist. Außerdem geht es darum, noch nicht vollzogene Entwicklungsschritte festzustellen und eine sinnvolle Unterstützung (Heileurythmie, Musiktherapie, interne Förderung zu installieren oder auch externe Experten bei (z.B. LRS) zu Rate zu ziehen. Ja, die Waldorfpädagogik ist natürlich dafür bekannt, dass hier den Kindern mehr Zeit gegeben wird und so schnell niemand mit einer Liste an Fähig- und Fertigkeiten parat steht und ankreuzt, bewertet oder gar benotet. Der Waldorfweg steht dafür, dass Schüler:Innen sehr individuell betrachtet und begleitet werden und es auch völlig “okay” ist, wenn das ein oder andere Kind im Bereich X einfach mehr Zeit benötigt als viele andere Kinder. Unter anderem ist aus diesem Grund die Zweitklassuntersuchung auch unter Waldorfpädagogen umstritten, denn hier wird ja doch irgendwie eine Art Messlatte angelegt und “kontrolliert”, ob Kinder sich adäquat entwickeln. Kritiker dieses Instruments behaupten sogar, dass  eine Zweitklassuntersuchung menschenkundlich (nach Steiner) gar nicht vertretbar sei. Meiner Meinung nach widerspricht eine individuelle Förderung dem grundsätzlichen Gedanken “Kinder lernen von selbst, wenn man sie nur lässt.” allerdings nicht. Ganz im Gegenteil. Wie schlimm wäre es, wenn die Waldorfschulen nun einfach alle Kinder mit einem Gedanken: “Es [Lesen, Schreiben, Rechnen,…etc.] kommt eben dann, wenn es beim Kind dran ist.” komplett hängen lassen würden und ihnen nicht von Anfang Förderung zu Teil werden ließen, die sie vielleicht benötigen. Vor allem auch präventive Angebote, dass spätere Lernschwierigkeiten erst gar nicht entstehen würden. Klar, als Eltern ist es wichtig da im Vertrauen zu bleiben, dass das Kind seinen Weg schon gehen wird. Der eine früher, der andere etwas später. In Schule zeigt sich aber eben, dass Kinder immer individueller werden und eine immer spezifischere, individuellere Förderung und/oder Forderung brauchen.  Als Mama möchte ich mein Kind ja nicht einfach hängenlassen, sondern es in der Schule und zu Hause liebevoll unterstützt und begleitet wissen. Egal, ob es Förderung oder Forderung braucht. Das ist auf jeden Fall als Mama mein Wunsch an Schule. 

Die Durchführung

Im Folgenden zeige ich euch mal meine Liste, die ich selbst während unseres Elternabends mitgeschrieben habe. Hier findet also nun die Bereiche, die bei den Schüler:Innen aus Friedas Klasse überprüft wurden. Da es meine eigene Mitschrift als Mama eines Waldorfschulkindes ist, gebe ich somit natürlich keine Gewähr auf Vollständigkeit. Ebenfalls gilt zu sagen, dass die Aufgaben und Übungen selbstverständich nicht alle einfach so der Reihe nach abgespult werden mussten, sondern die Kinder die Zweitklassuntersuchung als spielerisches Einzelsetting erlebt haben. Unserer Frieda jedenfalls hat es absolut Spaß gemacht. Sie war unfassbar stolz und richtig glücklich, als sie an diesem Tag nach Hause kam und sprudelte nur so vor Erzählfreude.

Beispiele aus der Zweitklassuntersuchung

  • gibt es beim Kind persistierende Reflexe? Persistierende Reflexe, sind frühkindliche Reflexe (z.B. der MoroReflex), die zum Teil oder noch ganz aktiv sind. Dann kann die Folge sein, dass es zu Schwierigkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Auge-Hand-Koordination etc. kommt und das Kind beim Lesen und Schreiben Probleme bekommt.
  • Die Dominanz bei Hand, Auge, Ohr (Fuß kommt oft etwas später) etc. sollte sich mittlerweile eingestellt haben und hängt mit den Funktionen der Gehirnhälften zusammen.
  • Anlaute und Auslaute heraushören, Wortsynthese (zusammensetzen von Buchstaben zu einem Wort) und Wortanalyse (woraus besteht das Wort?), hört das Kind ähnliche Laute (g/k oder b/p) heraus und unterscheidet es diese
  • Körperteile bennen, rechts-links
  • Mitbewegungen beim Werfen und Fangen, Hüpfen, auf einem Bein, Gleichgewicht, Symmetrie
  • Auge-Folge-Bewegungen (Kind folgt einem in die Luft geschriebenem Buchstaben)
  • Zeitorientierung (Tage, Monate, Jahreszeiten) – Kinder, die hier Schwierigekeiten zeigen, haben
    oft im Rechnen Probleme
  • akustische Merkfähigkeit (Dinge/Wörter sagen und nachsprechen)
  • Rhythmus erkennen, nachmachen
  • Tastsinn (Formen erfühlen)
  • Zeugnisspruch sprechen (um etwaige logopädische Schwierigkeiten wie Lispeln etc. zu
    erkennen)
  • Lied singen
  • Zahlenverständnis bis 30 (Rechenaufgaben)
  • malen (sich selbst und die Umgebung)
  • Überblick über Konzentration, Durchhaltevermögen und allgemeine Arbeitshaltung

An Friedas Schule wurde die Zweitklassuntersuchung von einem Lehrer:Innen-Team durchgeführt, die im Bereich Heilpädagogik, Motorik und Musik besonders geschult sind. Die Durchführung kann und wird an jeder Waldorfschule sicherlich etwas anders sein und unser Beispiel ist selbstverständlich nicht allgemeingültig. Nach der Zweitklassuntersuchung wurden Eltern dann zum persönlichen Gespräch eingeladen, wenn Lernschwierigkeiten erkannt bzw. sich Unterrichtsbeobachtungen der Klassenlehrerin bestätigt haben. So konnte den Eltern und ihren Kindern passende Hilfen angeboten oder empfohlen werden. In unserem Fall bekamen Eltern, deren Kinder die Zweitklassuntersuchung ohne Auffälligkeiten durchlaufen hatten, einen Brief.